amokAnhand des Amoklaufs von München sind kritische Fragen zur Rolle der Medien angebracht. Dazu möchte ich zwei kleine Geschichten erzählen:

Wir waren eine nicht zu bändigende Schulklasse. In den Pausen lieferten wir uns heftige Gefechte mit Wasserpistolen und setzten unser Klassenzimmer unter Wasser. In einer Schulstunde beobachtete unser damaliger Geografielehrer, wie Hugo, ein Schüler auf der Bank vor mir, unaufmerksam war und irgend etwas unter der Tischplatte verbarg. Er forderte ihn auf, ihm den Gegenstand zu zeigen. Hugo holte eine Pistole unter dem Tisch hervor.

In der irrigen Annahme, es handele sich um eine der Wasserpistolen, wollte jener Lehrer das Ding an sich nehmen. Hugo trat einen Schritt zurück, lud die Pistole durch und sagte in ruhigem Ton: „Ich lass mich nicht von Ihnen entwaffnen.“ Erst jetzt begriff der Lehrer, dass es sich um eine echte Waffe handelte, wurde kreideweiß im Gesicht und verließ fluchtartig unser Klassenzimmer.

Es passierte eine Weile nichts, die Schulstunde verging und auch zur nächsten Stunde sahen wir keinen Lehrer. Erst nach einiger Zeit kam unser Religionslehrer, den offensichtlich das Kollegium vorgeschickt hatte. Der überredete Hugo, ihm die Waffe auszuhändigen und zog mit der Pistole von anstandslos dannen. Hugo durfte die Schule nicht mehr betreten, der Vorfall wurde nicht öffentlich gemacht.

Kommen wir zur zweiten Geschichte:
Mein Sohnemann spielte Fußball bis zum Abitur. Zu seinem Team gehörte auch ein junger Spieler, der zuverlässig und unaufgeregt dabei und ein fester Bestandteil des Teams war. Während die anderen nach den Spielen voll von Adrenalin heftig debattierten und Siege feierten, saß jener Spieler eher ruhig, beinahe verschlossen in der Mannschaftskabine. Kurz vor dem Abitur erhielten wir die Nachricht: Der junge Mann hatte sich auf einer ICE-Strecke vor einen fahrenden Zug geworfen.
Hinterher erfuhren wir von schulischen Problemen jenes Deutsch-Iraners aus gutem Hause. Er hatte vor dem Abitur den Anschluss verpasst, war wohl einige Zeit der Schule ganz ferngeblieben und wäre nicht zu den Prüfungen zugelassen worden. So machte er es dem Fußballtorhüter Robert Enke gleich, der wenige Wochen zuvor sich vor einen Zug geworfen hatte und dessen Suizid in der Presse ausführlich debattiert wurde.

Was haben die beiden Geschichten miteinander zu tun? Nun, Hugo der Spinner aus meiner Klasse, bekam mit seiner Waffe keine große Geschichte. In unserer heutigen Zeit würde die Schule geräumt und abgesperrt, ein SEK würde mobilisiert und mit dem Bewaffneten verhandeln, die Medien würden aufmarschieren und mit Übertragungswagen vorfahren, der Vorgang würde sich durch die sozialen Medien lawinenartig verbreiten, Eltern würden heulend an den Polizeiabsperrungen stehen und von Kameras gefilmt werden. Hugo hätte seinen großen Auftritt gehabt und wer weiß, wie die Geschichte damals ausgegangen wäre?

Der Medienrummel um den Selbstmord des Nationaltorhüters Enke hat offensichtlich jenen Fußballkollegen meines Sohnes dazu inspiriert, den gleichen Freitod zu suchen. Viele Medien haben interne Richtlinien zur Berichterstattung über Suizide und verpflichten sich zum freiwilligen Verzicht auf Publikation. Im Fall Robert Enke berichteten die Medien jedoch mit wenig Zurückhaltung. Mit dem Resultat - nach Selbstmorden berühmter Persönlichkeiten gibt es Nachahmungstäter wie jener junge Fußballer - in der Psychologie wird dies als „Werther-Effekt“ bezeichnet.

Bei jenem jungen Mann aus München handelte es sich weder um einen politischen Attentäter, noch um einen radikalen Islamisten, sondern um einen verzweifelten Jugendlichen. Der - vielleicht - inspiriert durch den Medienrummel um die Attentäter von Nizza oder Würzburg sich einen „großen“ Abgang verschaffen wollte. Der endlich Aufmerksamkeit für seine Person einforderte und sich deshalb extremer Taten bediente. Die Aufmerksamkeit hat er postum offensichtlich erhalten, selbst Staatspräsidenten wie Obama, Hollande und Putin haben seine Handlungen wahr genommen.

Da stellt sich zwangsläufig die Frage unserer Medien - ohne großes Medienecho wären solche Amoktaten auch nicht denkbar. Die Medien und die Täter schaukeln sich gegenseitig hoch - die Taten fordern immer mehr Opfer; werden immer grausamer und unmenschlicher, die Berichterstattung immer offensiver und rücksichtsloser.