Es ist Vollmond am 27. Mai 23. Die Tuwiner feiern das Frühlingsfest "Bai-Taiga" auf 3.000 Meter Höhe, wenn der Autor den tuwinischen Text richtig verstanden hat. Aber man sieht, es ist bitter kalt auf der Höhe. Und während oben gebetet wird, die Obrigkeit weise Reden schwingt, stirbt Tuwas Jugend in der Ukraine. Tuwa hat mit Abstand die höchste Todesrate aller russischen Regionen - gemessen an der Bevölkerung.
Tuwa ist eine autonome Republik innerhalb Russlands und grenzt im Süden an die Mongolei. Seine Fläche beträgt knapp die Hälfte Deutschlands, wird aber nur von etwas über 300 Tausend Menschen bewohnt. Knapp 90% der Bewohner sind Tuwiner, ein Turkvolk buddhistischen Glaubens.
Die Region ist auch für russische Verhältnisse völlig abgelegen, nur zwei Straßen verbinden Tuwa mit Russland. Eine Eisenbahnanbindung soll irgendwann mal kommen und die Hauptstadt Kysyl hat einen regionalen Flughafen.
Das Land besitzt vielfältige Bodenschätze, die zu billig abgegeben werden. Dafür hängt der Etat des Landes mit bis zu 90% an Mitteln des Bundes. Die Bevölkerung ist im Durchschnitt arm, die Lebenserwartung mit 60 Jahren gering. Da sind die ausgeschriebenen Gehälter, die die russische Regierung für die Teilnahme am Ukrainekrieg bezahlt, beinahe wie ein Lottogewinn. Und wird ein Tuwiner an der Front getötet, dann ist es für die Familie ein finanzieller Volltreffer. So kommt es, dass viele Tuwiner in den Krieg gegen die Ukraine ziehen, obwohl das nicht ihre Angelegenheiten betrifft und viele die politischen Hintergründe kaum verstehen.
Die russische Armee setzt gerne auf die jungen Männer aus den abgelegenen Regionen Russlands. Deren Bildungsgrad mag nicht besonders hoch sein, dafür eignen sich die Naturburschen gerade für die harten Bedingungen eines Krieges. Sie haben gelernt, auch unter widrigsten Bedingungen zu (über)leben und ertragen Kälte oder Hitze in den Schützengräber ohne Murren. Es gibt einige russische Kampfeinheiten, die ausschließlich mit Männern aus Tuwa besetzt sind.
Russische Soldaten aus Tuwa mit geistlicher Unterstützung Anfang Mai 23 in der Ukraine
Bis Ende des Monats Mai haben wir 329 gefallene Tuwiner im Ukrainekrieg gezählt. Das macht etwa 1,1 Promille der gesamten Bevölkerung aus. Im Vergleich - der Durchschnitt in Russland beträgt aktuell 0,16 Promille, den nächst höchsten Wert hat Burjaten mit 0,75 Promille. Für die Stadt Moskau würde dieser Wert etwa 12.000 Kriegstote bedeuten.
Die Todesrate von Tuwa mag gering erscheinen, aber man sollte noch ein paar andere Faktoren bedenken. Betrachten wir die Bevölkerung von Tuwa - von den 300 Tausend Tuwinern sind die Hälfte Frauen, bei den Männern dürfe etwa die Hälfte nicht wehrfähig sein - zu jung, zu alt oder krank. Es bleiben etwa 75.000 Männer im wehrfähigen Alter.
Wenn wir jetzt unsere Abschätzung der Kriegstoten anlegen, dann haben wir mindestens 60% nicht Erfahrung gebracht. Damit wären wir bei gerundet bereits bei 530 gefallenen Soldaten. Dazu kommen noch 1.840 ernsthaft Verwundete, damit sind wir bei 2.370 Kriegsopfer. Nach dieser Abschätzung dürften aktuell ca. 3 Prozent aller wehrfähigen Männer tot oder verwundet sein. Welche Auswirkungen dies auf die tuwinische Ökonomie haben wird, wird sich erst in Jahren zeigen.
Es soll hier nicht der Eindruck erweckt werden, dass der russische Staat zielgerichtet ethnische Minderheiten in den Krieg schicken würde. Genau so wie die Gefangenen aus den Lagerkolonien, die Männer ohne großartige Bildung, die einfache Landbevölkerung gehören die ethnischen Minderheiten aus den abgelegenen Regionen zu den entbehrlichen Soldaten, die man vorne an der Front kämpfen und sterben lässt. Und die Tuwiner, Burjaten und Tschuktschen bringen dazu noch Fertigkeiten mit, die eine Armee gut brauchen kann. Sie können mit Gewehr und Messer gut umgehen und haben das Überleben unter widrigsten Umständen gelernt.
Im totalitären Russland scheint ein Schutz ethnischer Minderheiten unmöglich geworden sein. Die tuwinische Regierung unterstützt nach Kräften den Krieg Russlands gegen die Ukraine. Sie lobt sich selbst, dass sie aktuell wieder mal ihr Soll an frischen Wehrpflichtigen übererfüllt hat.Und auch Kriegsminister Schoigu, ein Tuwiner, freut sich über die vielen Freiwilligen aus seiner Heimat.
Siegesparade in der Hauptstadt Kysyl am 09.05.23